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Auf irgendeiner Ebene sind uns die Eigenschaften der menschlichen Natur, die „Thinking, fast and slow“ erläutert, schon bekannt. In unserer Gesellschaft wird die Vernunft und die rationalen Handlungen der Menschen gerne hervorgehoben, Attribute, durch die wir uns sehr gerne gegenüber unseren sonstigen Verwandten im Tierreich einen besonderen Standesdünkel gönnen. Doch wie in diesem Buch so meisterhaft dargestellt, gibt es eine beträchtliche Menge an Faktoren, die unsere scheinbar so vernünftigen Entscheidungen verdrehen und beeinflussen können. Laut Kahneman kann man diese zwei so unvereinbaren Aspekte unseres Wesens als getrennte Systeme betrachten: Das erste System verkörpert unsere gedankenlosen, selbstständigen, unterbewussten und reflexartigen Reaktionen, wogegen das zweite System das logisch handelnde und vernünftige Dasein vertritt, wofür wir uns Menschen eigentlich halten. Viele der Forschungsarbeiten und Ergebnisse, die in diesem Buch behandelt werden, hat Kahneman zusammen mit seinem verstorbenen Kollegen Amos Tversky selbst durchgeführt. Ihm ist das Buch auch gewidmet.
Im Kern, so Kahneman, lässt sich das Wechselspiel zwischen den beiden Systemen auf die Tatsache zurückführen, dass wir von Natur aus immer den Weg des geringsten Widerstandes wählen. Wir treffen nämlich lieber die Entscheidungen, die uns die wenigsten Mühen kosten. Natürlich soll das längst nicht bedeuten, dass wir (bzw. das uns vertretende System 2) die Entscheidungen überhaupt nicht treffen, doch laut Kahneman fungiert das zweite System lediglich als Kontrollkörper der Informationen, die vom ersten System weitergeleitet werden. Wenn diese Daten allem Anschein nach den Tatschen entsprechen, werden sie vom zweiten System ungeprüft und unverändert für bare Münze genommen. Daraus ergibt sich das im Titel erwähnte „schnelle Denken“, das zu Fehlern und Vorurteilen führt, ohne sie zu ahnen.
In dieser Zusammenfassung der Forschungsergebnissen mehrerer Jahrzehnten findet man viele interessante Einsichten in die Vorgänge des Hirns bezüglich der Entscheidungsfindung. Jeden Aspekt handelt Kahneman einzeln und alleine ab, auch wenn sie selbstverständlich nicht alleine agieren und in manchen Fällen sogar eine Verkörperung desselben Phänomens bildet. Zum Beispiel erörtert er die sogenannte Ankerheuristik, eine verblüffende Erscheinung, wodurch wir eine Entscheidung von einer völlig unzusammenhängenden und willkürlichen Anregung beeinflussen lassen, ohne sich derer bewusst zu sein. In dem gelieferten Beispiel zeigt sich, dass die Gerichtsurteile erfahrener Richter sich anscheinend durch einen vollkommen belanglosen Würfelwurf lenken ließen.
In diesen Seiten will Kahneman viele Themen abhandeln, doch seine Stärke liegt vor allem darin, dass er sonst ziemlich banale Versuchsergebnisse in eine sehr begreifliche Art und Weise präsentiert, damit jeder verstehen kann, wie aufschlussreich sie in Wirklichkeit sind, und welche große Schlussfolgerungen, sich daraus ziehen lassen. Vor allem die erste Hälfte des Buches lässt sich sehr leicht lesen, wo die rohen Daten den Experimenten und ihren Auswertungen nur eine unterstützende Rolle spielen. Während manche Themen rein theoretisch behandelt werden, hebt Kahneman andere wegen ihres Einflusses auf bestimmte Schichten der Gesellschaft hervor. Hier macht er auch keinen Hehl daraus, Börsenmakler, Geschäftsmänner oder seine eigenen Psychologiestudenten wegen ihrer absurden Entscheidungen aufzuziehen. Viele Kapitel werden durch einen kleinen Test eingeführt, dem sich der Leser selbst unterziehen kann, um selbst ein Teil des Experiments zu werden. So billig das auch klingen mag, eignen sich diese kleinen Tests hervorragend, die unvernünftigen Arbeitsweisen unseres Hirns zu beweisen und sie dem Leser handgreiflich vor Augen zu führen.
Für mich besteht die große Ironie dieses Buches darin, das es anscheinend eine Theorie beweisen will, die die eigenen Seiten erläutern, nämlich den Unterschied zwischen dem „erfahrenden“ und dem „erinnernden“ Geist. Den experimentellen Ergebnissen zufolge hinterlässt ein mehrheitlich angenehmes Erlebnis eine schlechte Erinnerung, wenn es durch unschönen abschließenden Augenblick verdorben wird, denn in unserem Gedächtnis wird das positive Empfinden durch das ausgangs negative Erlebnis überschrieben. Nach meinem Empfinden leidet dieses Buch leider unter genau dieser Erscheinung. Zu Beginn weist es einen prosaischen und erhellenden Schreibstil auf, gewürzt durch gelegentliche Anekdoten und geistreiche Abschweifungen. Doch die zweite Hälfte kommt einem vor, als wäre sie von einem anderen Kahneman oder für einen anderen Leser verfasst. Besät mit akademischen Begrifflichkeiten ist der Stil plötzlich schwülstig und schwerfällig, und die menschlichen Einsichten sowie Testbeispiele fallen gänzlich weg.
Trotz der zwei unterschiedlichen Hälften kann ich das Buch dennoch herzlich jedem empfehlen, der sich selbst nur flüchtig für die Psychologie oder die kognitiven Wissenschaften interessiert. Den erleuchtenden Erkenntnissen in diesem Buch muss man nichts entnehmen, doch ich schmeichele mir gern, dass ich die parteiischen Vorurteile und Anregungen meines ersten Systems durch die vernünftigen und nüchternen Eindrücke des zweiten überstimme, indem ich das Buch mit fünf Sternen bewerte. Oder lasse ich mich von einem mir noch schleierhaften Anker etwa lenken …